Stan Albers und Stephan Vokuhl sind seit 20 Jahren Arbeitskollegen. Stephan ist körperlich schwer beeinträchtigt (Tetraspastik). Sie laufen gemeinsam, mit einem high-end Laufrollstuhl, einem Rollstuhl, den die dänische Firma Wolturnus ursprünglich für zwei dänische Brüder, die unter dem Namen „Team Tvilling“ laufen, entwickelt hat.
Stan nimmt uns mit auf den Weg zum ersten gemeinsamen Marathon:
Wir hatten die Idee gemeinsam zu laufen in 2013. Das Jahr 2014 haben wir gebraucht um uns zu orientieren und einen Laufrollstuhl an Land zu holen. 2015 war das erste Jahr in dem wir tatsächlich trainiert haben. Wir mussten erstmal in jeder Hinsicht unsere Erfahrungen sammeln: Den Laufrollstuhl kennenlernen, einander kennenlernen. Bedingt durch Stephans schweren Beeinträchtigungen war das durch- aus ein längerer Weg. Vieles ist umständlich, erstmal, aber wenn man es kennenge- lernt, angenommen und routiniert hat, fällt es einem nicht mehr auf.
Bereits in 2015 sind wir unseren ersten Halbmarathon (21,1 km) gelaufen, in Krefeld, verbunden natürlich mit der Reise dorthin und der Übernachtung dort, auch das da- mals ein Abenteuer.
Das Laufen mit einem Laufrollstuhl ist ein einmaliges Geschehen, technisch gesehen bildet dieses Laufen so etwas wie eine eigene Disziplin. Man braucht in jeder Hin- sicht Erfahrung: Wie nehmen wir die Kurven? Wie gehen wir mit Bordsteinkanten um? Wie überholen wir? Wie gehen wir mit Steigungen um? Wie mit Abgängen?
Mittlerweile im vierten Jahr angekommen, sind wir aber überaus erfahren. Wir waren mit dem Laufrollstuhl bereits „überall“: In Städten, im Wald, auf Hügeln, an Seen, wir sind auf allen erdenklichen Arten von Straßenbelag bereits gelaufen. Den Laufroll- stuhl haben wir hunderte Male auseinandergenommen und auch wieder zusammengesetzt, wir kennen jede Schraube, und wissen wie wir die „Maschine“ „fine-tunen“.
So schien es also nicht vermessen, in diesem Jahr uns unseren ersten Marathon vor- zunehmen. Da wir bereits mehrmals in Koblenz gelaufen sind (den tollen Münz-Firmenlauf mehrmals und letztes Jahr einen schnellen Halbmarathon beim ersten Sparkassenlauf) und dort nur schöne Erfahrungen gemacht haben, und da Stephan Koblenzer ist, lag nichts näher als auf einen Marathonstart am 02. September in Koblenz, beim zweiten Sparkassenlauf dort, hinzuarbeiten.
Wir haben zehn Wochen eigens für diesen Marathon trainiert, meistens gemeinsam. Es war nicht leicht einen passenden Trainingsplan zu finden, weil es für unsere spezifische Konstellation natürlich keine gibt. Auch läuft Stan, wenn er mal alleine läuft, andere Zeiten als mit Stephan zusammen, so dass mehrere Trainingspläne konsultiert werden mussten.
Was wir in Vorbereitung auf den Marathon lernen mussten war, langsam zu laufen. Bislang hatten wir immer auf Schnelligkeit gesetzt, aber das führt bei der langen Ma- rathonstrecke (42,2 km) meist in den Ruin und ins vorzeitige Aus. Es war eine große Veränderung und erstmal sehr ungewohnt, und ging uns sehr „gegen den Strich“.
Aber allmählich haben wir den Sinn des Langsamlaufens verstanden und die Aufgabe angenommen.
Beim ersten Marathon gilt gemeinhin die Maxime, „Ankommen ist alles!“ Daran haben auch wir uns gehalten. Unsere Strategie war es, vom Start an so lange wie möglich unser langsames Tempo durchzuhalten. Wir hatten uns ein Tempo von 6 Minuten und 40 Sekunden pro gelaufener Kilometer gewählt, das fühlte sich am Natürlichsten an.
Dieses Tempo durchzuhalten ist uns etwa 13 Kilometer lang gelungen, und es hat zum Erfolg viel beigetragen. Insbesondere, dass wir uns beim Start nicht haben mitreißen lassen sondern gleich aufs eigene Tempo gegangen sind (und uns also von Dutzenden von Läufern haben überholen lassen) hat uns die Energie für den Rest der Strecke gesichert.
Nach 13 Kilometern waren die Beine aber warm und man wird dann wie von selbst schneller, auch das ist aber etwas, was man gut kontrollieren muss, denn es waren ab dort noch fast 30 Kilometer, die bewältigt werden mussten.
Ein Höhepunkt während des Laufes war klar der Zieldurchlauf nach der Halbmarathondistanz. Einzulaufen ins Stadion, dort dann aber nicht, wie weitaus die meisten, auf das Ziel zuzusteuern sondern die Spur zu wählen die auf den gleichlangen (nochmal 21,1) zweiten Teil der Marathonstrecke führt, und also das Stadion laufend wieder zu verlassen, ist was Besonderes! Nicht wenige Leute werden auch nicht schlecht gestaunt haben, dass ausgerechnet wir die volle Strecke laufen mochten.
War es während des ersten Teils schon so, dass wir sehr viel Zuspruch erhielten, auf dem zweiten Teil der Strecke wurde das noch intensiver. Teilweise kamen uns da die Halbmarathonläufer auf ihren letzten Kilometern entgegen, und sie zollten uns fast ausnahmslos ihren Respekt, durch klatschen oder Rufe. Das geht schon unter die Haut!
Der zweite Teil der Strecke war größtenteils recht leer, als die Halbmarathonläufer alle von der Strecke waren und, weil das Läuferfeld des Marathons nicht so groß war (deutlich weniger als 300 Läufer). Auch das war eine besondere Erfahrung: Die Stre- cke, die beim ersten Durchgang so gut gefüllt war, jetzt derart alleine zu belaufen, dass man manchmal keine andere Läufer im Blick hat.
Wir waren auf die zweite Hälfte der Distanz im Vorfeld sehr gespannt, weil wir wussten, dass wir unser langsames Tempo nicht mehr halten würden (aber nicht wussten, welches Tempo rumkommen würde), und, da jenseits von 32 km Neuland sein würde: Wir hatten gemäß unseren Trainingsplänen nur Strecken bis 32 km absol- viert. Wir hatten viel darüber spekuliert, wie schwer die letzen 10 km werden würden.
Aber die zweite Hälfte verging insgesamt wie im Flug. Es reihte sich ganz schnell Ki- lometer an Kilometer und es wurde immer klarer, dass wir auf eine Zielzeit von etwa vier Stunden und 10 Minuten zusteuerten, womit wir sehr zufrieden sein konnten.
Einmal mussten wir pumpen, weil der linke große Radschlauch Luft verloren hatte, aber wir mussten den Schlauch nicht wechseln (was auch gegangen wäre, wir hatten alles dabei). Stephan hat Stan halbstündlich mit Trinkgel-Tüten versorgt, wir waren dauernd im Austausch über den Verlauf und wurden, als klar wurde, dass wir es schaffen konnten, immer aufgeregter.
Wir haben das beim Zieleinlauf gar nicht so richtig mitgekriegt, aber beim Video da- von berührt der lang anhaltende Applaus der Umstehenden, irgendwie hört man den Respekt raus, der uns da gezollt wurde.
Es war phantastisch, zusammen dieses Ziel zu erreichen. Es ist eine besondere sportliche Erfahrung, derart im Team konzentriert und über einen langen Zeitraum et- was anzustreben, und es dann tatsächlich zu erreichen.
Wahrscheinlich haben wir insofern Geschichte geschrieben, dass es kein anderes Läuferpaar in Deutschland gibt, das Vergleichbares unternimmt. Stephan dürfte der erste deutsche Tetraspastiker sein, der einen Marathon absolviert hat! Wir nehmen uns aber was das Laufen betrifft nicht als einzelne Sportler wahr, denn der eine könnte das, was wir tun: Laufen im Team und mit Laufrollstuhl, ohne den anderen nicht.
Als wir das Video von unserem Zieleinlauf in der größten Facebook-Läufergruppe posteten, erhielten wir innerhalb von zwei Stunden 250 „Likes“. Bis zum nächsten Morgen war die Zahl auf über 400 angestiegen. Viele andere Läufer zollten uns dort ihren Respekt in Kommentaren, nicht wenige berichteten davon, dass ihnen die Tränen gekommen waren, als sie sich das Video anschauten.
Als wir den Tag bei einem gemeinsamen Essen haben ausklingen lassen, kamen wir auf Inklusion zu sprechen. Ketzerisch haben wir festgestellt, dass der Begriff für uns keine Rolle mehr spielt (in den ersten Jahren war das anders). Wahrscheinlich nehmen wir, durch unsere intensive gemeinsame Arbeit der vergangenen Jahre, den von der Inklusionsdebatte angestrebten Zielzustand vorweg, dass Inklusion so normal ist, dass sich die Debatte dazu erübrigt.